Ursula Elisabeth Adler ist 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter Margarete, ihren jüngeren Geschwistern Elli und Gerd, sowie mit ihrer Tante Hedwig und Kusine Elfi nach Bleiwäsche kommt.

Die Familie musste ihre Heimat Marienwerder, etwa 100 km südlich von Danzig mit dem Allernötigsten fluchtartig verlassen. Sie hatten jedoch die Hoffnung, in spätestens 3 Wochen wieder zu Hause zu sein – eine Hoffnung, die sich nie erfüllen sollte.

Nach einer zweijährigen Odyssee gelangten sie schließlich nach Westdeutschland in unsere Region und wurden von den Behörden am 27. 10. 1946 in Bleiwäsche dem Haus Nr. 96 zugewiesen. Hier lebte das Geschwisterpaar Ferdinand und Wilhelmine Sprenger. Den Familien Adler und Getzlaff wurden ein kleines Schlafzimmer und zwei  Schlafplätze in der Küche zur Verfügung gestellt. Nach kurzer Zeit mußten sie in das Haus des Malermeister Arens Nr. 65 umziehen.

 

Die Versorgung war ihnen jeweils selbst überlassen. Gesammelte Bucheckern konnten im Dorfladen gegen Speiseöl eingetauscht werden. Ebenso sammelten sie Ähren auf den abgemähten Feldern und hamsterten Lebensmittel auch in den umliegenden Dörfern. Ein geschenktes Stück Speck bescherte ihnen eine außergewöhnliche Bereicherung des Speiseplans, der vorwiegend aus Wassersuppe mit Kartoffeln bestand.

Es mangelte jedoch nicht nur an Lebensmitteln. Ursula erinnert sich an ein geschenktes weißes Kleid mit Kornblumen und Ähren, eigentlich ein ideales Sonntagskleid. Da Kleidung ebenso zu den Mangelwaren gehörte, musste sie dieses Kleid auch zum Kühe hüten tragen. Der Familie war es wichtig, trotz des Mangels immer sauber und ordentlich gekleidet zu sein.

1946 hatte Bleiwäsche 598 Einwohner, dazu kamen 105 Evakuierte aus dem Ruhrgebiet und 187 Flüchtlinge. Flüchtlinge aus dem Osten waren nicht gerne gesehen, wobei auch die Bürger aus Bleiwäsche keine Ausnahme bildeten.

Ursula kann sich an viele Einzelheiten erinnern – an schlechte, aber auch an gute. Sie betont, sie habe sich in Bleiwäsche immer sicher gefühlt.

Sie war nicht nur Flüchtling, sondern gehörte auch der evangelischen Religion an, zu dieser Zeit ein weiterer Makel in dieser katholisch geprägten Region. Zu Fuß ging sie einmal wöchentlich nach Fürstenberg, um am Konfirmandenunterricht teilnehmen zu können. In positiver Erinnerung ist ihr die tolerante Haltung des Dorfpfarrers Roderfeld geblieben. Er erlaubte den evangelischen Mitbürgern, ihre Messen vor Ort in der katholischen Kirche zu feiern.

Ursula ist immer gerne zur Schule gegangen, auch in Bleiwäsche. Auf der Flucht hatte sie den Schulbesuch schmerzlich vermisst. In der Dorfschule saß sie in der hintersten Reihe bei den Schülern der letzten Klasse, was das Lernen nicht einfach machte, denn die Jungen hatten ihrem Alter entsprechend oft mehr Unsinn als Lernen im Sinn. Nach ihrer Schulentlassung kam sie im Dorf auf den Hof eines kriegsversehrten Kleinbauern, wo sie die Familie bei der Arbeit in Haus und Hof unterstützte und dafür verköstigt wurde. Ab und zu wurde sie auch mit dem Fahrrad der Familie nach Bad Wünnenberg geschickt, um kleinere Besorgungen zu erledigen.

Am 29. 6. 1947 erlebte Ursula ihr erstes Schützenfest, das sie aus ihrer Heimat nicht kannte. Zu diesem Zeitpunkt kehrte ihr geliebter Vater aus russischer Gefangenschaft zurück. Mit Hilfe von Verwandten in Berlin, zu der die Familie Adler immer Kontakt gehalten hatte, fand er seine Familie in Bleiwäsche. Um sie versorgen zu können ging er im August 1947 mit Ursula nach Altena, wo er Arbeit in der Industrie fand. Kurz darauf folgte ihm auch die übrige Familie. In Altena lernte Ursula ihren Mann kennen und heiratete mit 20 Jahren. Sie zogen in eine Werkswohnung des Stahlwerkes in Werdohl. In diesem Ort lebt sie auch heute noch, war hier mehr als 60 Jahre glücklich verheiratet und hat zwei Söhne Peter und Gert bekommen, die sich liebevoll und fürsorglich um sie kümmern, aber ihre Heimat im Herzen ist immer Marienwerder geblieben - dort wo sie ihre Kindheit verbrachte.
Diesen Ort hat sie gemeinsam mit ihren Söhnen im Jahr 2009 noch einmal besucht.

Um die Erlebnisse im Krieg verarbeiten zu können, stand auch noch ein Besuch in Bleiwäsche auf ihrem Wunschzettel. Im Alter von 86 Jahre, geistig und körperlich fit, wurde ihr mit Hilfe ihrer Familie dieser Wunsch im April 2019 erfüllt. Intensive Erinnerungen begleiteten diesen Tag und bei der Fahrt durch den Ort erkannte sie das Haus Sprenger und traf sogar zufällig Beate Sprenger vor dem Haus, mit der sie ein freundliches und herzliches Gespräch führen konnte.

Sehr zur Freude der Familie Scheumann konnte Ortsvorsteherin Claudia Sondermann Kopien der damaligen Zuweisungsunterlagen, die im Archiv des Bad Wünnenberger Rathauses gefunden wurden, übergeben. Eine schöne Erinnerung an die Zeit in Bleiwäsche und den erlebnisreichen Tag im Dorf - über 70 Jahre danach.